Unsere Ernährungsbiografie von Prof. Dr. med. Hans Konrad Biesalski

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Unsere Ernährungsbiografie: Wer sie kennt, lebt gesünder von Prof. Dr. med. Hans Konrad Biesalski ist eine Zusammenfassung zu den aktuellen Erkenntnissen der Ernährungswissenschaften, insbesondere in Bezug auf das Phänomen des 1000-Tage-Fensteres, der Epigenetik und der Gestaltung unserer eigenen Ernährungsbiografie.

Dr. Biesalski ist ehemaliger Professor am Institut für Ernährungswissen an der Universität Hohenheim und Autor zahlreicher Studien, Fachbeiträge und Lehrbücher.

Dass ein Forscher sich hier an ein populärwissenschaftliches Werk gemacht hat, ist ungewöhnlich und eine prägende Eigenschaft des Buches. Es ist frei von Dogmen und Ideologien und bewegt sich auf einer Basis fundierter Wissenschaft. Das ist bei Büchern rund um Ernährung leider keiner Selbstverständlichkeit und schon deswegen ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur Ernährungsdebatte.

Allerdings merkt man auch, dass der Autor normalerweise für ein Fachpublikum schreibt aber dazu später mehr.

Zum Inhalt von Unsere Ernährungsbiografie

Unsere Ernährungsbiografie beginnt zunächst mit dem 1000-Tage-Fenster, was leicht aufgerundet 266 Tagen Schwangerschaft und den ersten beiden Lebensjahren entspricht. Hier hat die Wissenschaft vermehrt Erkenntnisse und Belege, dass gerade in dieser Zeit wichtige Weichenstellungen in unserer Ernährungsbiografie erfolgen. Es geht hier um die Epigenetik, mit der das Genom des entstehenden Organismus auf Umwelteinflüsse reagiert, auch wenn das Erbgut selbst sich dadurch nicht verändert.

Diese dynamische Anpassung ermöglicht dem Organismus sich auf sein Umfeld einzustellen, zum Beispiel, ob er in eine Welt des Ernährungsmangels hineingeboren wird. In diesen ersten 1000 Tagen ist der Mensch zu erstaunlicher Anpassung in der Lage, die allerdings in unserer modernen Umwelt in Bezug auf das metabolische Syndrom (insbesondere Adipositas, Diabetes) eine Reihe von unerwünschten Konsequenzen hat.

Es kann in der Schwangerschaft zu einer Unterversorgung mit Nährstoffen kommen, zum Beispiel bei Mangelernährung der Mutter oder einer Störung der Plazentafunktion (z.B., wenn die Mutter raucht). Auch eine Überversorgung mit Energie bzw. Glukose ist möglich, zum Beispiel bei starkem Übergewicht der Mutter oder dem frühen Abstillen des Kindes und dem Füttern mit Fertignahrung. Beides führt zu einer Anpassung des Stoffwechsels und des Hormon-Haushaltes des Kindes. Dies kann leider auch gleichzeitig passieren, wenn die Energiezufuhr zu hoch und Mikronährstoffzufuhr zu niedrig ist.

"Die Epigenetik wird dafür verantwortlich gemacht, dass Erfahrungen der Mutter in ihrer Umwelt, wie z. B. ein plötzlich verändertes Nahrungsangebot, an die Nachkommen weitergegeben werden können, damit diese besser damit umgehen können."

Biesalski, Hans Konrad. Unsere Ernährungsbiografie

Dieses Thema wird vor allem in den ersten beiden Kapiteln beleuchtet, zieht sich allerdings als narrativ durch das gesamte Buch. Es wird immer wieder Bezug auf die Epigenetik genommen.

Der Autor widmet sich nun in zwei weiteren Kapiteln der Ernährung an sich. Das sind zunächst die Makro- und Mikronährstoffen und wie wichtig hier die Vielfallt im Speiseplan für unsere Ernährungsbiografie ist. Hier scheint bereits immer wieder Durch, dass der Autor gerne mit einigen unsinnigen Ernährungsweisheiten, vor allem einschränkenden Diäten, aufräumen möchte.

Danach werden die wichtigen Mechanismen, die unser Ernährungsverhalten bestimmen, beleuchtet. Das sind insbesondere die Rollen des Gehirns, der Hormone und unseres Körperfettes. Das egoistische Gehirn wird vom Autor als Begriff eingeführt und bezieht sich auf den Umstand, dass das Gehirn als Hauptenergieverbraucher (etwa 65% der im Blut zirkulierenden Glukose) uns konstant animieren will, es gut zu versorgen.

"Dabei wird der Konkurrenzkampf um die Ressourcen auch mit den Mitteln eines Suchtverhaltens geführt – scheinbar ganz unabhängig von der sonstigen Regulation von Hunger und Sättigung."

Biesalski, Hans Konrad. Unsere Ernährungsbiografie

Das hat, wie die Anpassungen im 1000-Tage-Fenster, gute evolutionsbiologische Gründe, bedeutet aber in der Tendenz einen Hang zum Übergewicht.

"Unser Organismus ist daher eher auf wiederkehrende Energieknappheit als auf dauerhaften Überfluss eingestellt."

Biesalski, Hans Konrad. Unsere Ernährungsbiografie

Des Weiteren werden die Auswirkungen von Stress erläutert. Hier spielt das Hormon Cortisol eine wichtige Rolle, dass daher neben Ghrelin, Leptin, Insulin und Dopamin eine Hauptrolle in Unserer Ernährungsbiografie einnimmt. Entsprechend widmet das Buch den Hormonen ein ganzes Kapitel, um ihre Wirkungsweisen zu erläutern. Der Autor nimmt auch hier wiederholt Bezug auf das 1000-Tage-Fenster, in welchem Einfluss auf den Leptin-Insulin-Regelkreis im Hypothalamus genommen wird.

Im Folgenden wird der Fetthaushalt genauer erläutert. Hier ist vor allem die Unterscheidung zwischen Unterhaut- (subkutan) und Bauchfett (viszeral) wichtig. Vor allem letzteres ist für unsere Gesundheit von großer Bedeutung, obwohl es in der öffentlichen Wahrnehmung eine geringere Rolle spielt, da es eher unsichtbar um unsere Organe geschlungen ist.

"Ausschlaggebend für Krankheiten im Zusammenhang mit dem Stoffwechsel scheint nicht das Gewicht, sondern das viszerale Fettgewebe zu sein, das die sogenannte Adiposopathie auslösen kann."

Biesalski, Hans Konrad. Unsere Ernährungsbiografie

Wie bereits erwähnt, verwendet das Buch einige Seiten, um ein paar Dinge aufzuklären, die der öffentlichen Debatte leider etwas entglitten sind. Das sind die wenig sinnvollen stark einschränkenden Diäten (Paleo, Low Carb, Vegan etc.), die Jagd auf Gluten, Salz und Laktose und eine übermäßige Fixierung auf den BMI. Das macht Freude zu lesen. Ich applaudiere jedem Autor, der da mal für ein wenig Klarheit sorgt.

"Die Tatsache, dass wir den Verdauungsprozess und seine vielfältigen Interaktionen mit Nahrung und Microbiota immer besser zu verstehen beginnen, ist für viele Ernährungsapostel ein besonderer Reiz, immer neue Übeltäter zu entlarven, die uns scheinbar krank machen."

Biesalski, Hans Konrad. Unsere Ernährungsbiografie

Im Laufe des Buches hat man insgesamt das Gefühl, dass es für den Menschen als Persönlichkeit nur wenig Hoffnung gibt: Unsere Ernährungsbiografie ist fixiert und wir sind erschreckend wenig selbst bestimmt. Dies Versucht der Autor zum Ende des Buches wieder einzufangen und gibt einige Ratschläge, von der Reduzierung des Zuckers, hin zu mehr Bewegung und dem Vermeiden von Stress.

"Das, was wir üblicherweise als »Lebensstil« bezeichnen, sind genau genommen »aktiv und selbst gestaltete Umweltbedingungen«, die ebenfalls epigenetische Veränderungen hervorrufen können – zum Besseren oder zum Schlechteren."

Biesalski, Hans Konrad. Unsere Ernährungsbiografie

Gedanken

Unsere Ernährungsbiografie ist ein wissenschaftlich fundierter Ernährungsratgeber, der nicht von einer bestimmten Ideologie getragen wird. Er nimmt sich Zeit, die Zusammenhänge des Stoffwechsels detailliert zu erläutern, soweit das in einem populärwissenschaftlichen Werk überhaupt möglich ist.

Zusätzlich bringt der Autor einen wichtigen Beitrag in die öffentlich geführte Ernährungsdebatte ein, mit dem 1000-Tage-Fenster und der Epigenetik.

Hier liegt allerdings auch die Schwäche des Buches, denn es versucht drei Dinge gleichzeitig unterzubringen: das Narrativ des 1000-Tage-Fensters und der Epigenetik, einen allgemeinen Ernährungsratgeber mit einer Einführung in die Ernährungswissenschaften/-medizin und einer fast schon persönliche Abrechnung mit verschiedensten Ideologien, von Vegan zu Low-Carb und Paleo. Zugegeben, Paleo bietet auch wirklich viel Spielfläche, um die Absurdität mancher Diäten aufzuzeigen und ich gönne dem Autor diesen kleinen Exkurs.

Insgesamt wirkt das Buch allerdings etwas überfrachtet und dazu fehlt es gelegentlich an Struktur.

Selbst eines der wichtigsten Erkenntnisse des 1000-Tage Narratives, nämlich das Paradox, dass sowohl Über- als auch Mangelernährung in der Schwangerschaft das Risiko erhöhen, dass das Kind später übergewichtig wird, ist hier ein gutes Beispiel. Diese Erkenntnis wird unzählige Male im Laufe des Buches aufgegriffen, aber vor allem der Überversorgungsfall wird nie sauber abschließend erläutert oder zusammengefasst.

Auch ist das Hin- und Herspringen im Text wiederholt notwendig, um einen Kontext zu finden und sich aus dem Gelesenen einen Reim zu machen. Es ist eine konstante Problematik des Buches, dass Themen wiederholt aufgegriffen, aber nie abschließend erläutert werden. Es kommt auch zu Wiederholungen, die nicht ganz beabsichtigt wirken. Hyperplasie und Hypertrophie des subkutanen bzw. viszeralen Fettgewebes werden so mehrfach erläutert, double burden als das gemeinsame Auftreten von Übergewicht und Mangelernährung ebenso, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Oft hätten auch eine Übersicht oder ein Schaubild gutgetan, damit der Leser seine Gedanken ordnen kann. So sind die relevanten Hormone umfangreich erläutert. Der Zusammenhang aller, wird aber nie abschließend aufgeklärt. Teilweise ist der Versuch zu erkennen. So gibt es eine Tabelle, die die "wichtigsten Akteure" zusammenfasst. Dort tauchen Ghrelin, Leptin, Insulin auf, Dopamin aber nicht, obwohl es im Text eine wichtige Rolle spielt. Stattdessen aber Adiponektin, das tatsächlich im Buch fünf Mal Erwähnung findet, ohne auch nur einmal erklärt oder in einen Zusammenhang gestellt zu werden.

Zusammengefasst ist Unsere Ernährungsbiografie trotzdem ein sehr lesenswertes Buch, dass ich nur empfehlen kann. Es wird allerdings eine gewisse Frustresistenz verlangt und es erfordert, dass man parallel mitschreibt, um die Gedankenanstöße, die das Buch einem gibt, zu ordnen und nachzurecherchieren.